Direkt zum Hauptbereich

Die nächtlichen Zauberbäume

Die nächtlichen Zauberbäume sind so dicht belaubt, dass sie sich am rabenschwarzen Himmel fast nicht mehr abzeichnen, wie auf eine unsichtbare Schnur gefädelt stehen aber merkwürdig hell leuchtend gelbe Nachtkerzen am Wegrand. Wir warten wie gehabt auf das, das kommen wird, und weil Nacht ist und das Ganze deshalb nur ein Traum, warten wir auch auf das, das schon lang vergangen ist. Der große Zauberer lehnt einstweilen dekorativ an einem Baumstamm und spuckt - Wie unpassend! - freche Worte in die Gegend. So richtig ungeniert. Ina, seine Schwester, schüttelt nur noch den Kopf über ihn. „Wo der das immer hernimmt“, sagt sie zu mir, als ob wir zwei große Schwestern wären und der große Zauberer der kleine Bruder. Ich komme mir wie Alice im Wunderland vor und finde das alles sehr, sehr spooky. Ein Glück weiß ich, dass ich nur träume, schließlich ist Nacht und ich bin ein ordentlicher Mensch, der wie alle ordentlichen Menschen in der Nacht schläft und wie es sich gehört, auch nur während des Schlafens träumt. Ich hab‘ das Ordentliche im Blut. „Das gut Strukturierte“, korrigiert mich Ina. Sie nervt. Sie nervt gewaltig, aber: sie kann nicht anders. Diese unvollständigen Menschlein können tatsächlich nicht anders, sie müssen die anderen ständig vervollkommnen, um selbst wenigstens eine Idee der eigenen Vollkommenheit zu kriegen (besser gesagt die Möglichkeit einer Idee der eigenen Vollkommenheit). Ich weiß das schon so lang, wie ich denken kann, und trotzdem nehme ich es dieser Ina übel. Ich beschließe mich endlich mal zu rächen und mich für ihren Bruder zu entscheiden. Freche Reden hin oder her, die werde ich ihm schon noch abgewöhnen. Ich lächle extrem verbindlich, um Ina in Sicherheit zu wiegen. Die Traumbäume wiegen sich gleich mit, das Rascheln der dunklen Blätter wird immer stärker, wir werden doch keinen Sandsturm kriegen? Mitten in der Nacht? Ina gibt sich aber fürs Erste mit meinem Lächeln zufrieden. Sie lächelt auch. Im Hintergrund ist der große Zauberer zu hören. Ich kann beruhigt aufhören. Ina erwartet mich schon: „Du bist ein offenes Buch für mich!“, sagt sie und lächelt immer noch zufrieden. Ob sie die Wahrheit aushält (wir wissen: eine Zumutung!), weil ich ja in Wirklichkeit kein Buch, sondern – wie jedes Buch – ein Spiegel bin? Also ihr Spiegel?



 


Kommentare

  1. Ein erhellend dunkler Traum ;)
    Herzliche Grüße aus dem bereits sonnigen Morgen

    AntwortenLöschen
  2. In den Träumen lässt sich gut mäandern und wandeln...
    Einen helllichten Tagesgruss,
    Brigitte

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

Henriette lächelt

Große Freude (und Aufregung ... ;) ): Ab heute gibt es die Henriette im Buchhandel: Henriette lächelt - Picus Verlag

Reisen. Immer reisen.

 . Die Welt, ein Reisekatalog und lauter Ziele. Endlich Ziele. Irgendwo aufschlagen, nur ein wenig schielen, damit wir die High-End-Seiten erwischen mit den High-End-Zielen, so unbestimmt die Sehnsucht ist, so bestimmt sind ihre Ziele, die Augen geschlossen, mit dem Finger wohin getippt: Reisen. Reisen wie auf der Flucht, obwohl wir doch die mit den guten Leben sind. Flucht nach vorne. Ins noch bessere Leben, im Fall des Falles auch dorthin, wo die mit den viel schlechteren Leben leben. An diesen herrlichen Stränden. In diesen malerischen Land- und Ort- und Stadtschaften. Wo die mit den glücklichen Gesichtern leben, wo sie so glücklich sind und nicht reisen müssen wie wir, die im Wohlstand feststecken wie im Glückssirup. Reisen, immer reisen, reisen. Der Schönheit, der Besonderheit, den Ausnahmen, unseretwegen auch der Armut hinterher, wenn es nicht anders geht und wenn sie uns nicht ungefragt unters Hemd greift, und der Sonne, die alles so unterschiedslos. So unfair, wie wir selbst es

Suchbilder und eine Rezension

 . (Buchhandlung Morawa, 1010 Wien) (Leporello, Singerstraße) Andrea Heinisch: Henriette lächelt. Roman (Picus Verlag), 23,- Ich hatte bereits Gelegenheit, ihn zu lesen und mich auf das Angenehmste überraschen zu lassen. „Wenn die anderen Frauen über ihre Figur reden, schweigt Henriette, weil sie nicht mitreden kann. Henriette hat keine Figur.“ Henriette hat 190 Kilo, nur ihre Finger sind schlank, Pianistinnenfinger. Henriette ist Buchhalterin im Homeoffice. „Jeden Morgen beschließt Henriette abzunehmen“, Strategien werden erprobt, die geheimen Vorräte sind in geheimen Fächern, geheimen Laden versteckt, der Lieferdienst liefert prompt. Henriette hat drei. Und Henriette hat eine Mutter im Genick, von der sie sich nicht zu emanzipieren weiß. Die Mutter liegt zwar am Friedhof, ist aber allgegenwärtig. „Henriette hat so schwer an sich zu tragen, dass sie nicht auch noch Verantwortung tragen kann.“ Henriette hatte nicht immer 190 Kilo —Tendenz steigend. Als sie noch U-80 war, hat sie sich