Die größte Kostbarkeit meines Vaters war ein Bild von Nitsch. Es hing natürlich nicht in der Ordination, aber auch im Wohnzimmer sorgte es für manch überraschten Blick von Gästen, die zum ersten Mal zu Besuch war. „Und sowas gefällt dir?“, das war die häufigste und harmloseste Reaktion, aber wenn der Abend fortgeschritten war und der Alkoholspiegel für deutlichere Töne sorgte, gab es immer wieder regelrechte Wortgefechte. Grad dass kein Blut geflossen ist, um das ja immerhin gestritten wurde. Speziell der Pfarrer war ein erbitterter Gegner von Nitsch, dessen Namen er nicht einmal in den Mund nahm, er sagte nur „dieser sogenannte Künstler“, wenn es wieder einmal um das Bild ging und warum sich ein gebildeter Mann wie mein Vater so einen gotteslästerlichen, blutrünstigen Dreck an die Wand hängt. Ja er unterstellte meinem Vater gelegentlich sogar, dass dieser Faible für diesen sogenannten Künstler ein durchaus bedenkliches Interesse an Blut offenlege (gerade für einen Arzt!), worauf ihm mein Vater Kleingeistigkeit, Banausentum und Weltfremdheit, ja Lebensfremdheit attestierte. Meinem Vater schien dieses Bild nach solchen Abenden noch mehr zu bedeuten, ich sah ihn nicht nur einmal sinnierend davorstehen, als ob es irgendwelche geheime Botschaften aus diesen Strichen und den darüber geworfenen Blutspritzern zu entschlüsseln gäbe. Ich habe ihn gern beobachtet, wenn er so versunken dastand. Ohne jede Regung und ganz still war er da, ich hörte nicht einmal seinen Atem, ich sah nur, dass sein Rücken sich mit den Atemzügen hob und senkte. Ich folgte der Linie seiner leicht abfallenden Schultern, folgte auch den Armen, die wie leblos an ihm herunterhingen, als ob sie ihm jemand an die Schultern getackert und vergessen hätte, sie mit dem restlichen Mann zu verbinden. Ich sah wie sein Hals, der für einen so großen und kräftigen Mann eigentlich zu schmal und zu lang war, verloren aus dem viel zu weiten Kragen des Arztkittels herausragen. Ich sah, wie sich die Haare, die früher so dicht gewesen waren, dass ihm beim Frisieren einmal sogar ein Kamm abgebrochen ist, zu lichten begannen und wie aus den einzelnen grauen Haaren viele graue Strähnen geworden waren. Ich stand – ebenso reglos wie er – hinter ihm in der Tür, bereit sofort wegzuspringen, wenn er mich entdeckte, denn er konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn man ihn beobachtete, wobei auch immer.
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