Ich überlege, ob ich Georg anrufen soll. Ich könnte ihn wie früher fragen, ob wir rausgehen wollen. Er würde „Ja“ sagen und fünf Minuten später würde es unten läuten, ich würde „Gleich!“ rufen und mir noch schnell Kniestrümpfe anziehen und eine Jacke umwerfen, damit meine Mutter mich nicht am Haustor abfangen und ins Zimmer zurückschicken kann: „Geh dir sofort was anziehen, sonst holst du dir noch den Tod!“ Wir würden in den Mogatschwald hinüberlaufen und weiter an unserer geheimen Hütte bauen. Es ist schön warm unter der Decke, ich ziehe sie mir bis unters Kinn. ‚Schön wäre das gewesen ‘, denke ich und drehe mich auf die Seite. Ich stelle mir vor, dass ich eine Rolle rückwärts mache, und als ich wieder aufstehe, stehe ich mitten in meiner Kindheit. Sie ist noch ganz leer, ich fange einfach noch einmal von vorne an. Wie ich mich so umschaue (grüne Wiesen, lauter grüne Wiesen) höre ich meine Mutter unten in der Küche herumwirtschaften. Besteck scheppert, Teller klappern, sie scheint den Geschirrspüler auszuräumen und das möglichst laut, damit ich endlich aufstehe und mit ihr frühstücke. Die ganze Trostlosigkeit ihrer stets picobello aufgeräumten Küche steckt in diesen Geräuschen. Seit auch ihr zweiter Mann gestorben ist, weiß sie gar nichts mehr mit sich anzufangen, ihr fehlt der Mann. Im Dorf ist sie die Frau vom Doktor geblieben, auch als sie einige Jahre nach dem Tod meines Vaters den Lagerhaustypen geheiratet hat. „Den Leiter vom ganzen Bezirk“, würde sie mich jetzt korrigieren, und dass der dem Leopold zwar nicht das Wasser reichen hat können, aber dass er ein guter Mann gewesen sei, was ich gar nicht wissen könne, weil ich doch schon damals so gut wie nie zu ihr herausgekommen wäre. Außerdem hätte ich sowieso leicht reden, wie das halt immer schon mit mir gewesen sei. Im Gegensatz zu ihr hätte ich es halt leicht da in Wien, wo man doch alles machen könne. Und was das für eine Schande sei, dass ich trotzdem nichts G’scheites machen würde und das mit den guten Noten, die ich immer gehabt habe. Weil sie damals halt noch auf mich schauen hat können. Chirurgin hätte ich werden können und wie stolz das auch den Vater gemacht hätte. Was ich an diesem Büro-Hocken eigentlich finden würde und was ich da eigentlich genau mache. Sie würde das immer noch nicht wirklich verstehen, weil ich ihr ja nie etwas erzählen würde. Schon früher hätte ich ihr nie erzählt, was wirklich wichtig gewesen wäre, und dass sie deshalb auch nie die Mutter sein hätte können, die sie gern gewesen wäre, und dann hätte ich ihr nicht einmal ein Enkelkind geschenkt. Ich beschließe aufzustehen. Ich bin froh, dass ich heute wieder nach Wien fahre. Zwei Tage sind genug.
. Aus irgendwelchen Gründen kann ich hier keine Fotos mehr hochladen. So habe ich einen neuen Blog gestartet, wobei ich mich dort noch ganz schön herumplage ... Aber hier: Andrea Heinisch, der Blog – Fotos, Texte und Neuigkeiten von Andrea Heinisch (wordpress.com) geht es weiter! Davon abgesehen bin ich jedoch wie jeden Sommer ohnehin schwer beschäftigt: Nach den ganzen Beeren müssen nun Tomaten, Gurken, Zuccini, Paprika, Lauch, ... verarbeitet werden, und Besuch findet sich hier auf unserem Hof ja auch immer wieder ein. Alles andere muss dazwischen passieren. :) Liebe Grüße, Andrea
Tja, das Verhältnis vom Müttern und Töchtern ist oft ein sehr kompliziertes.
AntwortenLöschenIch kenne (kannte, denn Mama ist tot) das zum Glück von einer harmonischeren Seite aus.
Schön erzählt von dir!
Lieben Gruss in die letzte Maiwoche,
Brigitte
Danke, liebe Brigitte! Und ja, tatsächlich ist der Mai schon fast wieder vorbei ...
LöschenLiebe Grüße, Andrea