Wenn Annemie „Kindchen“ zu mir sagt, dann fehlt es richtig weit, dann bin ich so richtig aus der Spur gefallen. „Kindchen, der macht sein Ding. Das hat er immer schon gemacht“, sagt sie und schaut mitleidig. Nur weil sie so schaut, verzeihe ich ihr das ‚Kindchen‘. Sie schaut nämlich nur ganz selten so. Weil ihr das zu privat ist, glaube ich. Auch Blicke können zu privat sein, da hat sie schon Recht. Und was Georg angeht, hat sie natürlich auch Recht. Georg hat immer schon sein Ding gemacht und das Ding ist sein Leben. Betonung auf sein. Ich habe das nur nicht gemerkt. „Weil ich dazu gehört habe“, sage ich, aber Annemie (die lässt mir heute nichts durchgehen): „Weil du dazugehören wolltest.“ Betonung auf „wolltest“. Ich sage nichts drauf, weil das jetzt schon ganz schön hart ist („Wahrheit tut weh“, würde Hermann sagen. ‚Genauso weh wie seine Schläge?‘, denke ich), aber auch weil ich merke, dass der Sessel, auf dem ich sitze, noch nass gewesen sein muss. Es hat auch heute Nacht wieder heftig gewittert und diesmal hat es auch richtig stark geregnet. Also eigentlich müssten sie die Sessel schon gründlich trockenwischen, bevor die Gäste kommen. Meine Hose ist ganz nass. Annemie springt auch auf: auch auf ihrem Hosenboden zeichnet sich das Muster vom Sessel ab. Ich winke der Kellnerin, die schon aus der Ferne sieht, worum es geht. Sie kommt mit einem Fetzen und Sitzpölstern und erklärt uns dann, dass wir schon warten hätten können, bis sie alle Tische und Sessel abgewischt hat. „Ist ja nicht so schlimm“, sage ich, wir müssen uns nachher halt die Jacken umbinden, und ich denke, dass das heute offensichtlich der Tag der großen Irrtümer ist. Nein: Fehlleistungen: fehl gesehen, fehl gedacht, fehl gegangen, fehl gesessen. Ich bestelle zwei Melange und zwei Kardinalschnitten. „Ich lade dich ein. Zur Feier des Tages“, sage ich zu Annemie. „Feier?“ „Nein, einfach so.“ Was sollte es schon zu feiern geben? Die Wahrheit ist nichts zum Feiern, die ist höchstens was zum Aushalten. „Und du?“, frage ich. „Ich hab‘ die Lösung“, sagt Annemie. Das wundert mich nicht. Wo ich aus der Spur falle, findet Annemie Lösungen. „Wir werden gemeinsam pendeln“, sagt sie und ich kann ihr ansehen, wie sehr sie sich freut, dass es nun doch klappt mit dem Oswald, Prag und ihr. Sie wird ihre Wohnung in Wien behalten, sie wird wie auch die zukünftige Wohnung in Prag die gemeinsame Wohnung werden. Ihr Herbert und sie werden abwechselnd Homeoffice machen und entsprechend einmal in Prag, einmal in Wien wohnen. Und ab und zu wird sie auch allein nach Wien kommen. „Ganz flexibel, wie es halt grad am besten passt!“, sagt sie und weil ich dabei ihr glückliches Gesicht sehe (es kommt mir lebendiger vor als früher, als ob Annemie das Flexible schon vorweggenommen hätte), glaube ich auch, dass das funktionieren wird. Ich kann mir den Oswald zwar nur ganz schwer flexibel vorstellen, weil wie der an der unnötigen Zappletal festgehängt ist ohne Sinn und Verstand … flexibel ist was anderes, aber bitte. Annemie wird schon wissen, was sie tut. Und vielleicht ist der Oswald anders flexibel. Mehr wie Plastilin. Lässt sich überall dazukneten. Oder aber alles ist überhaupt ganz anders. ‚Stille Wasser sind tief‘, fällt mir ein. Denke ich echt schon wie Hermann? Oder doch wie ich selbst? Ist Hermann die nächste Fehlleistung des Tages? Aber ein stilles Wasser bin ich wenigstens nicht und tief schon gar nicht. Heute komme ich mir vielmehr vor wie eine der vielen Regenpfützen, die erschreckt aufspritzen, wenn ein Auto durchfährt. Oder freudig, wenn ein Kind hineinspringt. Nein, ich denke jetzt nicht auch noch an Annabelle. Hoffentlich geht es wenigstens ihr gut mit ihrem Hamburger Jan. Ein Hubschrauber donnert über uns hinweg, wenig dahinter fliegt schon der nächste. Wie Hummeln hängen sie am Himmel. Sähe man es nicht mit eigenen Augen, würde man nicht glauben, dass die sich da oben halten können. „Findest du nicht auch, dass man seit dem Krieg viel mehr Hubschrauber hört? Und Polizeisirenen?“ Ja, Annemie ist das auch schon aufgefallen. ‚Hoffentlich wollen alle anderen nicht auch noch mitspielen‘, denke ich. Ich habe kurz vergessen, worum es eigentlich geht. Um den Krieg geht es, den echten. Und noch einmal Hermann: „Es ist Krieg, Baby!“ Und wer nicht hören will, muss fühlen. (‚Und wer nicht fühlen will, zieht immer wieder in den Krieg, immer wieder, immer wieder‘, denke ich.) „Hast du Zigaretten mit?“, frage ich Annemie. „Ich brauch‘ jetzt eine.“
Ich soll ihr den Garten
hüten, wenn sie in Prag ist. „Seit wann kann ein Garten davonlaufen?“, habe ich
zurückgefragt, aber Annemie hat das nicht lustig gefunden. Sie würde eh
schauen, dass sie im Frühling und im Sommer häufiger in Wien ist. Ich müsste mich
doch nicht so anstellen, ich könnte schließlich auch mal was für sie tun. Auch
mal? Das finde ich immer noch ganz schön üppig. Was hat sie denn für mich
getan? Muss man sich überhaupt andauernd irgendwas tun? ‚Antun?‘, denke ich
automatisch. (Es gibt Wörter, die fallen einander automatisch in den Schoß. Als
ob sie magnetisch wären.) Der Oswald tut aber was, er tut Annemie zwar nichts
an, aber er tut ihr offensichtlich nicht gut. So ungut war sie noch nie. Hätte
ich nicht gedacht. Von ihm und von Annemie schon gar nicht. Ganz sicher werde
ich ihr ihren komischen Garten nicht in Ordnung halten. Ich werde mich schon irgendwie
aus der Affäre ziehen, denke ich, und da fällt mir, wie könnte es anders sein, Georg
ein, weil der sich ja auch aus der Affäre gezogen hat, aus unserer nämlich und
das nach den vielen Jahren und noch dazu so raffiniert. Nein, nicht raffiniert:
Tarnen und Täuschen, das sind doch die ältesten Listen der Welt. Eigentlich. Heute
ist echt nicht mein Glückstag, denn jetzt erinnere ich mich auch noch an diese
Träne, die natürlich mir und nicht ihm über die Wange gekugelt ist. Die anderen
Tränen habe ich hochgezogen wie früher als Kind. Am liebsten hätte ich mir auch
noch die Nase mit dem Unterarm abgewischt, aber das hat mich da im Lift neben dem
Mann und der Frau, die maximal gelangweilt nebeneinander gestanden sind, dann
doch geniert. Ich werde Annemie tausend unmögliche Fragen stellen, ich werde
mich überhaupt so blöd anstellen, dass sie schon selbst merken wird, dass das
nicht klappt mit mir und ihrem Garten. Ich werde ihr Hermann empfehlen. ‚Ans
Herz werde ich ihr den Hermann legen‘, denke ich. ‚Wie eine Natter.‘ Also die
Natter soll der Hermann sein, nicht ich. Ich wasche meine Hände in Unschuld. Gartentechnisch.
Und sonst auch.
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