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Annemie und Oswald

Am Weg ins Büro muss ich an einer Bettlerin vorbei. Sie sitzt im Beserlpark auf einer Bank, als ob sie auf meinen Wegzoll wartet. Ich hab‘ ihr vor ein paar Jahren ein paar Mal statt einem Euro fünf Euro gegeben, und einmal, als es extrem heiß war, habe ich sogar bei mir duschen lassen. Seither erwartet sie fix mindestens fünf Euro, wenn ich an ihr vorbei will. Eigentlich erwartet sie mehr, denn selbst wenn ich ihr die fünf Euro gebe, jammert sie in ihrem Singsang weiter von Tabletten, die sie braucht, sie deutet auf ihr Herz, zeigt mir die leeren Taschen ihrer Jacke und sagt immer wieder „Alles Gute, alles Gute“. Als Corona gekommen ist, ist sie verschwunden, aber jetzt ist sie wieder da und deshalb gehe ich jetzt nicht mehr durch den Beserlpark. Normalerweise. Aber heute war ich wegen Annemie und dem Oswald so in Gedanken, dass ich drauf vergessen habe. Die Bettlerin hat mich sofort gesehen. Gleich als ich ums Eck gekommen bin, ist sie von ihrer Bank aufgestanden und ist die paar Schritte zum Weg so langsam gegangen, dass ich genau auf sie getroffen bin. „Alles Gute, alles Gute!“, hat sie gerufen und ich habe schnell mein Geldbörsel aus meiner Handtasche geholt und ihr ihre fünf Euro gegeben. „Alles Gute, alles Gute!“. Das unangenehme Gefühl ist davon aber nicht weggegangen, bis jetzt nicht. Und dann sind da ja auch noch Annemie und dieser Oswald. Der Oswald von der Zappletal, der jetzt also meiner Annemie gehört. 

‚Aber sie gehört ihm nicht, Annemie gehört niemandem‘, denke ich, weil ich Annemie nicht zu jemand anderem denken will. Ich will nicht, dass sie mit dem Oswald an einem Tisch sitzt, dass sie einander zuprosten und über irgendetwas lachen, das sie einander gerade erzählt haben. Ich will nicht, dass sie sich zu ihm hinüberbeugt, weil sie genau verstehen will, was er gerade gesagt hat. Dass sie sich dann zurücklehnt und dass dieser Oswald in ihrem Gesicht lesen kann, wie sie gerade nachdenkt über das, das er ihr erzählt hat. Ich will nicht, dass sie dann zu einer Antwort ansetzt, wo er sehen kann, wie sie die ersten Worte noch mit Vorsicht durch die Mundhöhle schiebt und wie die anderen, als ob ihnen der Weg nun schon gebahnt wäre, rasch hinterherkommen. Und dann? Was ist dann mit Oswald und Annemie? Was ist dann mit Oswald anders als mit mir? Sieht er ihre glatte Haut und die schmalen Schultern? Sieht er ihre Augen und sie sind bis zur Seele hinunter offen? Weil er Oswald ist? Legt er seine Hand über den Tisch hinüber zu ihrer? Sagt er dann: „Ich bin so froh!“ Kann der Oswald sowas überhaupt sagen? Ich kann mir das nicht vorstellen, ich will es mir nicht vorstellen. Ich will Annemie allein denken, weil sie meine Annemie bleiben soll. Wem soll ich jetzt meine Großer-Zauberer-Geschichten erzählen? Wer wird sich zu mir hinüberbeugen, weil er mich genau verstehen will. Wer wird sich in die Lehne zurückfallen lassen und drüber nachdenken, mit einem Lächeln in den Mundwinkeln?

Hoffentlich ist der Oswald heute nicht im Büro. Mir ist ja eh schon vor ein paar Tagen aufgefallen, dass er besser ausschaut. Viel besser. Ich hab‘ mir gedacht, dass das wegen der Zappletal ist, also weil er sich von der Zappletalfreiheit frei gemacht hat (weil: Nur die eigene Freiheit macht schön). Natürlich ist er doch da und mir fällt mir auf, dass er sich offensichtlich auch ein neues Sakko (leichtes Leinen, blau, passt zu Annemies Augen) und neue Schuhe gekauft hat. Rundumerneuerung also. Ich erinnere mich, wie er mir das vom Verstehen erzählt hat und mir kommt die Idee, dass er statt der Zappletal jetzt die Annemie versteht (aber wirklich versteht) und sie ihn (um Himmels willen) sowieso. ‚Und wer versteht mich?‘, fällt mir ein und da denke ich zu meiner eigenen Überraschung nach dem ersten, dem Georg-Reflex plötzlich an Gottfried. Vielleicht sollte ich mich wirklich endlich einmal mit ihm treffen. Oder ihn wenigstens anrufen. Er hat sich seit unserem letzten Telefonat nicht mehr gemeldet. Schluss jetzt. Ich muss jetzt endlich zu arbeiten anfangen. Eine Kampagne, irgendwas mit Diversity und Empowerment. Schwach-Sein war gestern.




Kommentare

  1. Ja, da heisst es stark sein. So viel unterschwellige Abkehr aber auch! Da ist die Eifersucht schwer zu unterdrücken. :--)
    Lieben Gruss,
    Brigitte

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    1. Ja, zur Zeit hat es meine Ich-Erzählerin echt nicht leicht. Mal sehen, wie es weitergeht! :)
      Liebe, und trotzdem sommerfrohe Grüße, Andrea

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