Er hat ein Gesicht mit ganz viel Platz und die freundlichsten Augen, die mir bisher untergekommen sind. Die Haare – grau, aber früher dunkel oder brünett, das sieht man noch – lichten sich schon, überhaupt schaut er älter aus, als ich ihn mir vorgestellt habe. Er heißt in Wirklichkeit ja auch nicht Gottfried: „Michael“, sagt er. „Ella“, sage ich. Er ist ein großer Mann, sicher einen Kopf größer als ich, breitschultrig, wobei er die Schultern fallen lässt. Keine Anspannung. Nicht nachlässig, sondern aus Gewohnheit. Weil es halt so ist. Leicht gebückt steht er da. Vielleicht hat er es mit dem Rücken oder er will den Bauchansatz verstecken. Eigentlich habe ich seit Corona das Bussi-Bussi abgeschafft, aber ich beuge mich zu ihm hin (er ist mehr als einen Kopf größer als ich, ich muss mich strecken). Bussi links, Bussi rechts. Er riecht gut. Nach satten Herbstfarben, und seine Haut liegt für diese kurzen Momente wie angegossen an meiner. Nur ein leichtes Kratzen, wie zur Erinnerung, dass da jemand ist. Ich muss aufpassen, dass ich nicht zu lang an ihm liegen bleibe. Ich drehe mich schnell um und ziehe die Tür hinter mir zu. „Ich bin schon fertig, wir können gleich gehen“, sage ich. Ich will ihn nicht in die Wohnung lassen, wo sich Ina innerhalb weniger Stunden breit gemacht hat. Ich habe sowieso nicht gewollt, dass er mich von zuhause abholt, aber er hat nicht lockergelassen. Er ist förmlich, alte Schule. Als wir unten auf der Gasse stehen, schauen wir uns an: „Da sind wir also“, sagt er und ich: „Ja.“
Als ich später
nachhause komme, hat Ina das Wohnzimmer bereits vollkommen in Beschlag
genommen. Es schaut aus, als ob eine Bombe eingeschlagen hätte, eine Kreativbombe.
Federn, Perlen, Steine in allen Farben und Formen, gefasst und ohne Fassung,
Drähte, Ketten, Bänder, Reifen, Ringe, Werkzeug. Schachteln, Schächtelchen. Eines
muss man ihr allerdings lassen: selbst dieses echt üble Chaos sieht hübsch aus.
Malerisch. Und wie sie so mittendrin sitzt und in ihrer typischen Art konzentriert
auf die Silberschlinge schaut, in die sie offenkundig ein paar Perlen hineinfädeln
will, (samtig schimmernd, auch richtig schön), ist auch sie hübsch anzusehen.
Ich hole tief Atem, in der Hoffnung, dass mir etwas Passendes einfällt,
das ich ihr sagen kann - ohne sie und ihre Künstlerseele zu beleidigen und doch
so deutlich, dass sie mit ihrem Kram aus dem Wohnzimmer (meinem Wohnzimmer) abzieht.
Aber als ich zum Reden ansetze, ist mir nicht nur nichts eingefallen, das Ina diplomatisch
zum Rückzug bewegen könnte, sondern ganz im Gegenteil, da höre ich mich doch
glatt sagen: „Wie schön! Du und dein ganzer Schmuckkastenkram!“ „Kram?“, ohne die
Augen von der Silberschlinge zu heben, runzelt sie ihre Stirn. Das ist eine
Zurechtweisung. Ina ist eben Ina. Ich setze mich ihr gegenüber ins Fauteuil und
schaue ihr zu. Ich fühle mich ganz ruhig (seelenruhig) und das ändert sich
nicht einmal, als Ina über eine der am Boden abgestellten randvollen Schachteln
stolpert. Sie hatte urplötzlich Durst bekommen und war einfach zu schnell aufgesprungen.
Ich sage nur: „Macht nichts, das haben wir gleich,“ und helfe ihr beim Zurückräumen
der tausend und mehr Kleinigkeiten, die aus der Schachtel gefallen sind. Genau
genommen helfe ich ihr nicht, sondern ich räume ein, während sie sich in der
Küche zu schaffen macht. Sie kommt mit der zweiten Proseccoflasche zurück, die
ich im Kühlschrank stehen gehabt habe, weil sie findet, dass wir ein gutes Team
sind. Irgendwie finde ich das auch. „Aber das“, sage ich und zeige auf den Schmuckkram,
„bleibt nicht die ganze Zeit hier liegen?“ „Nein, was denkst du denn!“ Aber der
Habeler, der verlogene Hund, habe ihr die Schachteln grad vorher gebracht und
da habe sie nachschauen müssen, ob eh alles dabei ist. Sie schiebt ein paar Drähte
und Perlen auf die Seite, stellt die Flasche auf den Tisch und nimmt die Silberschlinge
mit den Perlen in die Hand. Wenn man sie auseinanderzieht, ums
Armgelenk legt und die Haken an den Enden ineinandersteckt, hat man ein samtig
schimmerndes Band am Arm. „Für dich“, sagt Ina und freut sich wie ein Kind. Wie
bitte soll man so jemandem böse sein können? „Der hat echt geglaubt, dass ich auch
nur noch einen Fuß in seine beschissene Wohnung setze! Der hat sie doch nicht mehr
alle!“ Die Schachteln hat ihr der Habeler schön selbst nachbringen können, das
war doch das Mindeste. Okay, man kann ihr schön böse sein, aber nicht ich.
Nicht heute.
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