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Filo

Ich rufe wie im Fernsehen: „Überraschung!“ und Filo ist auch wirklich überrascht. Ich kann ganz deutlich sehen, wie es in ihrem Gesicht arbeitet. Sie weiß ziemlich lang nicht, ob wir eine gute oder eine schlechte Überraschung sind, da drängt sich Ina vor: „Wir haben uns beim Fünfziger von Gabi kennengelernt. Weißt eh noch?“ Ja, Filo weiß es eh noch, „Und das ist Annemie.“ Auch das weiß Filo noch, da kommt noch jemand an die Tür. „Das ist Rieke.“ Nun bin ich überrascht, weil ich mir viel vorgestellt habe, wenn ich an die neue Liebe von Filo gedacht habe, aber eine wie Rieke war nicht dabei. Rieke ist eine durch und durch spießige Norddeutsche. Zumindest schaut sie so aus. Dunkelblondes, schulterlanges Haar, das – es ist ein bisschen strohig –  fast nach Dauerwelle ausschaut, blasse Gesichtsfarbe mit ein paar zu groß geratenen Sommersprossen. Undefinierbare Augenfarbe, aber zurechtgezupfte Augenbrauen und Lidschatten. Ein kleiner Mund, dünne Lippen, aber mit Lippenstift. Lackierte Fingernägel. Ungefähr so groß wie Filo, aber schmaler. Kurzer Rock. Immerhin barfuß wie Filo. Trotzdem kann ich nicht glauben, dass das ihre neue Liebe sein soll. Aber sie ist freundlich, sie streckt mir die Hand entgegen, sie sagt tatsächlich: „Guten Tag“ (lang kann die noch nicht in Wien sein!) und dann; „Das ist aber eine schöne Überraschung. Filo hat mir schon so viel von dir erzählt!“ Sie bittet uns in die Wohnung.

Ich war schon früher ab und zu bei Filo, da habe ich sie aber nur abgeholt und dann sind wir losgezogen. Ganz früher war das. Da war die U3 erst ein paar Jahre in Betrieb und es hat noch Landstraße Hauptstraße geheißen und nicht Wien - Mitte (als ob diese grindige Station das Herz von Wien wäre) – Rochusmarkt. Da gab’s auch die Post noch gleich oben bei der U-Bahnstation. Wir sitzen auf Filos Balkon, an den ich mich gar nicht erinnern konnte, womöglich bin ich in all den Jahren bisher nicht einmal über den Flur ihrer Wohnung hinausgekommen. Small-talk, angenehm, wenn auch ungewöhnlich, Filo ist eigentlich nicht der Typ für so ein Herumgerede. Zeitverschwendung, Massenwaregeplapper. „Vielleicht passt Wien-Mitte aber eh, weil Wien ohne das Grindige“ – ich schüttle den Kopf, „nein, das geht gar nicht.“ Ich erinnere mich plötzlich an Michael und an die Nummer mit dem Schweigen. Er hat sich immer noch nicht gemeldet. So ein Komiker. Ein Selberschweiger. Jetzt auf einmal. Rieke heißt eigentlich Friederike und kommt aus Hamburg. „Hamburg?“, sage ich und hätte fast gesagt, dass da meine Annabelle studiert, aber mir fällt rechtzeitig ein, dass Ina ja auch da ist. ‚Die rechtmäßige Mutter‘, denke ich. Auch wenn sie erst reagiert, als ich zu ihr hinübernicke und sage: „Ja, da kennen wir auch jemanden.“ Rieke ist nett, da kann man gar nichts sagen, und Filo ist wirklich in sie verliebt. Sie sucht immer wieder ihren Blick, beim Vorbeigehen streicht sie ihr wie zufällig über dem Rücken. Zufällig für uns, eindeutig für Rieke, die auf den Druck von Filos Hand reagiert, kurz die Augen schließt und eine kurze, kleine Anspannung in die Schultern legt. Ja, ich bin da, heißt das, und es ist schön anzusehen. Die beiden sind schön anzusehen.

 

 

 

 

 

Kommentare

  1. Junge Liebe ist durch nichts zu übertreffen. Und Überraschungen im Freundes- und Bekanntenkreis sind an der Tagesordnung. :--)
    Einen frohen, anregenden Sonntag wünsche ich.
    Lieben Gruss,
    Brigitte

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    1. Wie wahr! :) Liebe Grüße zurück aus einem sehr entspannten Sonntag.
      Andrea

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