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Ein anderes Märchen vom Rotkäppchen

Wie es wohl wäre, wenn da zum Beispiel Rotkäppchen hinter mir ginge und alles, das ich verliere, aufheben und in seinen Korb stecken würde? Tag für Tag und Nacht für Nacht hinge es an meinen Fersen und wahrlich, da gäbe es jede Menge, das es aufheben müsste. Nach all den Jahren hätte das arme Mädel aber auch einmal genug, es müsste den Korb schließlich auch einmal abstellen dürfen, es müsste sein Kreuz richten, sich strecken und wenigstens ein oder zwei unbeschwerte Schritte tun. Und da käme es, wie es kommen muss: zu lang hätte die Pause gedauert, zu weit wäre ich schon entfernt, wenn es den Korb wieder hochheben und nach mir schauen würde. Es würde herumirren zwischen den Fichten und Buchen und Eichen, es würde nach mir rufen und den Waldboden nach Spuren absuchen, aber ich wäre wie vom Erdboden verschluckt, einfach auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Das arme Rotkäppchen aber wäre mitten im Wald zurückgeblieben mitsamt seinem Korb, unter dessen rot-weiß-kariertem Tuch alles läge, das ich in meinem Leben so verloren habe. Selbstredend hätte der Wolf des Waldes die ganze Geschichte mitbekommen und weil so ein Wolf immer auch eine Ahnung von Märchen hat, hätte er dem Rotkäppchen eine Spur aus Brotkrumen gelegt. Denn natürlich hat auch so ein Rotkäppchen eine Ahnung von Märchen und so würde es sich beeilen, den Brotkrumen zu folgen, bevor sie ihm irgendwelche hungrigen Waldtiere wegfressen könnten. Wenn es mich schon verloren hatte, wollte es wenigstens zurück nachhause finden. Der Wolf aber würde sich eine Nachthaube aus dem vorletzten Jahrhundert überziehen und sich in das Bett legen, das am Ende des mit Brotkrumen gesäumten Weges stünde. Er würde sich schon aufs Rotkäppchen freuen, das er in einer spielerischen Anwandlung mein Rothäppchen nennen würde, viel mehr aber läge ihm an dem Festmahl, das ich im Lauf der vielen Jahre verloren hätte.





Kommentare

  1. Märchen sind so wunderbar wandlungsfähig.
    Aber irgendwie bleibt mir heute das Wort im Munde stecken.
    Die Realität scheint momentan jedes Märchen im Keime zu ersticken...
    Einen lieben Gruss zu dir,
    Brigitte

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    1. Ja, das ist wirklich ganz furchtbar, was da in so unmittelbarer Nähe grad passiert.
      Liebe Grüße, Andrea

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