Auch ein Beruf: Zitronenschnitzer. Da wacht jemand eines Morgens auf, drei kleine Messerchen in der Hand, und der Himmel ist gelb. Tatsächlich gelb, obwohl kein einziger Wetterbericht Saharastaub oder sonstige Absonderlichkeiten, die es uns ja immer wieder ins Geschehen weht, vorhergesagt hat. Der zukünftige Zitronenschnitzer reibt sich - weil das so sein muss - die Augen, doch der Himmel bleibt gelb. 'Und wo bleibt die Sonne?', denkt er pflichtbewusst, er kennt schließlich sein Universum. 'Ob sie hinter dem Himmel hängt?', überlegt er, während er aufsteht und nach den Socken greift, als ob ihn das Ganze eigentlich nichts anginge. Uns wundert es nicht, aber ihn, unseren zukünftigen Zitronenschnitzer, wundert es dann schon und das nicht schlecht, als er bemerkt, dass seine Socken vom üblichen Schwarz ins Zitronengelb changieren. Als er seine Füße hin und her dreht, um das Spiel dieser Merkwürdigkeit genauer in Augenschein nehmen zu können, merkt er zudem, dass er etwas in seinen Händen hält: drei kleine Zitronenmesserchen. Weich sind sie, als ob sie selbst in Wirklichkeit gerade erst irgendwo herausgeschnitten worden wären. 'Wie gerade erst geschlüpft', denkt er. 'Und mit noch viel schärferen Messerchen herausgeschnitten, mit einem Skalpell müssen die herausgeschnitten worden sein', denkt er. 'Sie müssen aber noch aushärten', denkt er. 'Ich muss sie in die Sonne legen und wie lang das dauern wird, wo sich die Sonne doch gerade erst versteckt hat', sagt er dann ziemlich laut, wie um sich zu vergewissern, dass er das alles tatsächlich gedacht und beschlossen hat. Wir aber wissen: er hat angebissen. Ja, jetzt hat er angebissen, sagen wir und nicken einander zu, denn genau so beginnt es, wenn einer anfängt, ein Zitronenschnitzer zu werden. Er wird die Messerchen jeden Tag vom Ost- zum Süd- und schließlich zum Westfenster tragen - immer diesem, seit jenem Morgen zitronengelben Sonnenlicht nach, und jedes Mal wird er vorsichtig auf die Klingen greifen, ob sie nicht endlich fester geworden sind. Dazwischen wird er Muster um Muster zeichnen, Ornamente, Girlanden, Landkarten sonderbarster Träume, ganze Kontinente werden da entstehen und kein Blatt Papier wird vor seinen Entwürfen sicher sein. Er wird es kaum erwarten - selbst bald verschwunden in den Stapeln zahlloser, über und über bekritzelter Zettel -, bis er endlich die ersten Schnitte in die Himmelshaut setzen wird können. "Wunder werden da entstehen am Himmel," wird er sagen, wenn ihn jemand besucht und fragt, was er da eigentlich macht die ganze Zeit. "Wunder über Wunder!"
(Foto von: Mona Lisa Blog | Literatur - Gedichte - Bücher - Zitate)
Mona Lisa wird sich freuen über die fantastische Geschichte zu ihrem Gelb-in-Gelb-Foto.
AntwortenLöschenJa, den Zitronenschnitzer muss es doch auch geben neben dem Zitronenfalter... :--)
Einen fröhlichen Gruss in die Maienwoche,
Brigitte
Auf den Zitronenschnitzer wäre ich sicher nicht gekommen. Danke für diese Geschichte ;)
AntwortenLöschenHerzliche Grüße