Direkt zum Hauptbereich

Annabelle

Zuerst konnte ich es nicht glauben, dass dieses phantasievolle Mädchen ausgerechnet Medizin studieren wollte. Medizin! Annabelle würde sich tagaus tagein anjammern lassen müssen, sie würde die grausligsten Sachen hören und die grausligsten Sachen sagen müssen. Knochentrocken, knochenhart, ich kannte das ja von meinem Vater. Aber was für ihn normal war, war für Annabelle doch undenkbar, Medizin war doch vollkommen vorbei an Annabelle! Und was sollte aus ihrer Begeisterung fürs Zeichnen werden? Ich liebte ihre Zeichnungen und ich liebte ihre nicht enden wollenden Erklärungen. Vorzugsweise entwarf sie nämlich irgendetwas, das sie einem dann bis ins letzte Detail erklärte: Blumenrabatte mit Blumen, die kein Mensch vor ihr je gesehen hatte, komplette Gärten mit Wegen (die gelegentlich auch unter die Erde führten und an einer anderen Stelle unerwartet wieder an die Oberfläche kamen), mit kleinen Bachläufen (mit bunt schimmerndem Wasser befüllt, das auch fontänenartig bis in den Himmel schießen konnte) und mit Ufern, die aus wundersam geformten Steinen bestanden , aber auch Dörfer mit einer rosa Dorfstraße, mit lila Häusern und einer durch und durch goldenen Kirche und der Kirchenwirt glänzte mit einem besonders gut ausgestatteten Spielplatz mit besonders vielen und außergewöhnlichen Geräten, auf denen die Kinder (nur die Kinder!) die tollsten Kunststücke aufführen konnten. Als sie einmal ein paar Tage bei mir in Wien war, weil Ina unterwegs war und ihre Eltern in Deutschland an einer Kunstmesse teilnahmen, entwarf Annabelle auch Städte und noch am Abend, als sie eigentlich schlafen sollte, überlegte sie hin und her, wie sie die Straßen, Straßenbahn- und Buslinien einzeichnen sollte, damit es beim Altenheim und dem Krankenhaus ruhig genug war, bis sie zum Schluss kam, dass sie eben ganz neue Autos, Straßenbahnen und Busse erfinden musste. Solche, die Musik machen, wenn sie sich bewegen zum Beispiel. Es konnte auch passieren, dass sie, wenn ich glaubte, dass sie jetzt endlich eingeschlafen war, plötzlich aufsprang und ihre letzte Zeichnung studierte. Genau genommen illustrierte sie mir damit aber nur ihre weiteren Überlegungen, sie wischte übers Papier, fuhr hin und her, zog mit der Fingerspitze Linien nach und redete ohne Unterlass. Wenn ich einen Moment lang unachtsam war oder gar den Blick von ihrer Zeichnung nahm, packte sie mich am Kinn und rückte mir den Kopf zurecht. Mal beiläufig als eine gleichermaßen lästige, wie notwendige Maßnahme, wenn sie gerade mitten in einer Erläuterung steckte, mal mit entrüstetem Blick und Stirnfalten, die man so einem Mädchen gar nicht zutrauen würde. Den Stift, den sie zuletzt verwendet hatte, legte sie nie aus der Hand – das konnte ein Bleistift, ein Bunt- oder Filzstift oder auch ein Kugelschreiber sein, was das anging, war sie nicht wählerisch -, damit sie jederzeit etwas hinzufügen oder auch ausbessern konnte, und nicht selten übermalte sie dann großflächig, was ihr Missfallen erweckt hatte. Die auf diese Weise entstehenden Flecken erklärte sie zu Wasserflächen (zum Meer oder zum See oder auch nur zu einem kleinen Teich, je nach Größe des Flecks), wo man halt nicht sehen könne, was sich unter der Oberfläche befand. Und so jemand hat tatsächlich beschlossen, Medizin zu studieren. Ich fand und finde es fürchterlich, ein vergeudetes Talent.




Kommentare

  1. Wunderbar, wie sich hier Annabelles und deine Fantasie auslebt! Und das mit der Medizin ist ja vielleicht noch einer der eingezeichneten Pläne... :--)
    Einen lieben Gruss.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Danke und ja, wir werden sehen ... :)
      Liebe Grüße, Andrea (derzeit in der Oma-Ausführung aktiv .. ;) )

      Löschen
  2. Vielleicht brauchen wir gerade fantasiebegabte Ärzte. Das eine muss das andere nicht ausschließen. Herzliche Grüße

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ich werde deine Anmerkung an die Ich-Erzählerin weiterleiten! :)))
      Liebe Grüße, Andrea

      Löschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

Neuer Blog: https://heinisch622718518.wordpress.com/

 . Aus irgendwelchen Gründen kann ich hier keine Fotos mehr hochladen. So habe ich einen neuen Blog gestartet, wobei ich mich dort noch ganz schön herumplage ...  Aber hier:  Andrea Heinisch, der Blog – Fotos, Texte und Neuigkeiten von Andrea Heinisch (wordpress.com)   geht es weiter! Davon abgesehen bin ich jedoch wie jeden Sommer ohnehin schwer beschäftigt:  Nach den ganzen Beeren müssen nun Tomaten, Gurken, Zuccini, Paprika, Lauch, ... verarbeitet werden, und Besuch findet sich hier auf unserem Hof ja auch immer wieder ein. Alles andere muss dazwischen passieren.  :) Liebe Grüße, Andrea

Save The Date: Herbsttermine

. 28.8.24: "Gute Kinder", Roman, Picus, erscheint 10.9.24:  Buchpräsentation  im Leporello, Singerstraße 7 14.9.24:  Premiere der Bühnenfassung  der Guten Kinder in der  Theaterarche , Wien 25. 9., 26.9., 4.10., 5.10., 10.10, 11.10., 12,10., 22.10., 23.10. - Aufführungen 20.9.:  Präsentation der Waldviertelanthologie  in St. Leonhard/Hornerwald im Gasthaus Staar 2.10.24:  Lesung aus den Guten Kindern in Lhotskys Literaturbuffet , 18.30

Textbesprechung - Idee & Angebot

Ich habe das unlängst gemacht und es hat mir (und auch der Autorin, deren Text ich durchgesehen habe) Freude gebracht und ich habe auch viel gelernt dabei, deshalb möchte ich das auch hier einmal anbieten:  Ich schaue mir Texte an und kommentiere sie  + wenn es sich um epische Texte handelt + wenn sie bis zu 500 Wörter umfassen (kann aber auch ein Ausschnitt sein) + wenn der Verfassen / die Verfasserin mit Kritik umgehen kann (wichtig!) + und natürlich wenn ich Zeit habe und mich der Text irgendwie anspricht Ich würde dann Text und Besprechung hier einstellen - auf Wunsch auch ohne Nennung des Verfassers/der Verfasserin -, weil ich an solch konkreten Beispielen am deutlichsten zeigen kann, was (nach meinem Dafürhalten) gute Texte ausmacht. Texte / Textausschnitte gern an: aheinisch (at) aon.at Liebe Grüße, Andrea