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Annemie ist genervt

„Und was sagt der Herbert?“ „Nichts sagt der Herbert, was soll er denn sagen?“ Annemie ist genervt, weil ich das jetzt schon zum dritten Mal gefragt habe, aber eigentlich geht es ihr darum, dass ihre Pragpläne nicht so klappen, wie sie sich das vorgestellt hat. Wochenlanges Homeoffice, so wird das nicht gehen, sie wird mindestens ein Mal pro Woche nach Wien kommen müssen, und das wird sie nicht machen, sie hat nicht vor, die Pendlerin des Jahres zu werden: „Liebe hin, Liebe her.“ An diesem Liebe-Hin-Liebe-Her-Punkt waren wir nun schon mehrfach, wir drehen uns im Kreis. Trotzdem freue ich mich extrem, dass Annemie gekommen ist. Eigentlich habe ich sie angerufen, weil ich ihr unbedingt von der wirklich letzten Nacht mit Georg erzählen wollte, Nein: musste. Georggeschichten ohne Annemie, das geht nicht. Und so habe ich einfach so getan, als ob nichts gewesen wäre, als ob es mir gar nicht aufgefallen wäre, dass sie sich einfach davon machen wollte aus meinem Leben. Wegen einem wie dem Oswald. Nun sitzt sie ja wieder hier bei mir und wer weiß, wie das weitergeht mit der idiotischen Pragidee. Es stört mich auch gar nicht, dass sie mich immer noch nicht gefragt hat, wie es mir geht, dass sie hereingekommen ist und ohne irgendeine Einleitung mit dem Ärger wegen ihrem Sektionschef angefangen hat. Der ein sturer alter Bock ist. Innovationsbereitschaft Null. Ein Paragrafenheini aus Selbsterhaltungsgründen. Der ihr ihre Pragidee abgedreht hat. Weil er halt nicht anders kann. Angeblich. Vorschriften, Beamtenrecht. Aber sie weiß genau, dass es in der Abteilung, wo sie früher war, einen ganz ähnlichen Fall gegeben hat und dass es da sehr wohl gegangen ist. Manche können es sich halt richten. Alles geschoben. „Geschobenes Recht“, sagt sie und lacht sogar. Ich merke, dass ich ihr gern zuhöre, was komisch ist, weil das ja keine schönen Sachen sind, über die sie redet, außerdem habe ich ja meine Georggeschichte noch immer nicht angebracht. Aber ich mag Annemies Art einfach. Sie bleibt immer so beherrscht. Ein gepflegter Ärger ist das, ein beruhigter. Ja mir kommt sogar vor, dass er nicht nur ein beruhigter Ärger ist, sondern gleichzeitig auch noch beruhigend. Ein Selbstbesänftigungsärger? Zielorientiert ist er auf jeden Fall: ich weiß, Annemie wird auch diesmal eine Lösung finden. Aus eigener Kraft, wie das immer gewesen ist. Der Annemieärger ist eben ganz anders als der echt schwer auszuhaltende hysterische Inaärger oder gar der Brachialärger von Filo. Also wenn Filo so richtig in Saft geht, da kann dann schon auch leicht einmal was zu Bruch gehen. Weil sie Grundsätze hat und an denen hängt sie mit ihrer ganzen Energie und davon hat sie nicht gerade wenig. Mich würde interessieren, wie das ihre neuen Liebe aushält. Weil so eine Liebe ab einem gewissen Punkt ja an die Grundsätze geht. An ihnen rüttelt wie an Gitterstäben, denke ich. Wie ich so im Bett sitze, Annemie neben mir, wie zu einem echten Krankenbesuch an der Bettkante sitzend und immer noch über die eigentlich skandalösen Zustände bei ihr im Ministerium palavernd, wie sehr ihr das – wenn sie sich ehrlich ist – über die Jahre aufs Gemüt schlage und dass sie deshalb ganz sicher weder im Wochentakt stundenlang pendeln, noch den Herbert opfern würde, schließlich habe sie nur ein Leben und das sei deutlich kürzer als das Leben der Wiener Bürokratie, das bekanntlicherweise ja ein ewiges sei, und wie ich draußen im Wohnzimmer Ina herumwerken höre, extra laut, damit ich ja bemerke, dass sie da ist und doch bitte endlich mitsamt Annemie aus dem Zimmer komme, wie mir Filo wieder einfällt und ich ‚meine ach so standhafte Filo‘ denke, bin ich plötzlich froh. Also so richtig froh, wo einem das Herz leicht wie eine Feder im Brustkorb liegt. Am liebsten würde ich Annemie umarmen, aber das wäre jetzt unpassend. Außerdem steht sie nicht auf solche Gefühlsausbrüche. So sage ich nur: „Komm, machen wir uns erst einmal einen Kaffee.“


 

 


Kommentare

  1. Gut, gibt es Freundinnen aller Art für Gespräche in jeder Couleur.
    Und das Kranksein scheint der Protagonistin gut zu bekommen. :--)
    Lieben Gruss ins Wochenende,
    Brigitte

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    Antworten
    1. Ja, Freundinnen sind ein Segen! :) Wegen Kranksein: Schaun wir mal! (Spoiler: das Kranksein dauert nicht lang. ;) )
      Liebe Grüße, Andrea

      Löschen

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