Der Unterschied
zwischen Wien und dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin: in Wien kenne ich
niemanden, den ich nicht kennen will. In Wien drehe ich einfach den Kopf zur
Seite oder lege mir das Handy ans Ohr und tue so, als ob ich telefonieren würde.
Oder ich schüttle einfach den Kopf („Nein, ich kann Ihnen nicht sagen, wo die Herrengasse
ist.“) und gehe ohne anzuhalten weiter. Oder ich wechsle die Straßenseite. An
den anderen Tagen kann ich einem Kind zuschauen, wie es so lang versucht, über
die Stufen zu kommen, bis es geschafft hat, was es wollte. Ich kann „So cute!“ zu
seiner Mutter sagen, weil ich gehört habe, dass sie mit dem Kind Englisch
redet. Ich kann der Frau, die vor mir auf der Rolltreppe gestanden ist, einfach
auf die Schulter klopfen: „Entschuldigung, Ihre Tasche steht ganz weit offen, ein
Griff und Ihr Geldbörsel ist weg.“ Ich kann mich im Park auf eine Bank setzen
und warten, bis jemand kommt. Ich kann hinübernicken und mit dem Mann, der sich
auf die Bank gegenüber gesetzt hat, ein Gespräch anfangen. „Heiß heute“, könnte
ich sagen, und er würde sagen „Ja, da wird’s einem zu eng in der Wohnung.“ Er
würde das nicht mit diesen Worten sagen, weil er eine andere Sprache spricht,
aber ich könnte ihn verstehen. Wir würden dasitzen, ein paar Jugendliche kämen
hinzu. Gestikulierend, sich laut über irgendetwas aufregend. Sie würden uns gar
nicht bemerken, uns gibt es nicht in ihrer Welt, wir sind da einfach nicht
vorgesehen. Ich wechsle einen Blick mit dem Mann von gegenüber: wir wissen beide,
dass wir jetzt unsichtbar sind. Dass wir jetzt alles tun können, das uns in den
Sinn kommt, weil es uns grad nicht gibt.
Michael spricht auch eine andere Sprache, aber ich verstehe sie nicht. Vielleicht gibt es ihn ja auch genauso wenig wie den Mann aus dem Park. Vielleicht habe ich ihn mir auch nur ausgedacht, damit ich nicht unsichtbar bin. Ich erschrecke. Vielleicht war es doch keine gute Idee, hierher zu fahren. Nicht dass ich ganz verloren gehe in diesem Drecksnest. Ich hätte doch auch ganz woanders hinfahren können, in ein Thermenhotel oder nach Kärnten an einen See. Ich hätte wenigstens Annemie fragen können, ob sie mitkommen will. Sie könnte mir jetzt auch helfen, sie wüsste genau, ob jemand da gewesen ist oder nicht. Ich werde hektisch, laufe durchs Haus und suche nach Beweisen. Im Gästezimmer riecht es wie immer, ein wenig abgestanden und staubig. Das Bettzeug liegt wie unberührt da, hoch aufgeschüttelt und in der Art meiner Mutter so aufgebreitet, dass man sich nur noch hineinlegen muss. Mit aufgeschlagener Bettdecke. Einladend. (Nicht wie früher, als sie ein Kind war, wo man das nicht so machen durfte. Sonst ist einem die dünne Eisschicht, die sich tagsüber auf der Decke gebildet hat, beim Zudecken auf die Brust gefallen.) Ich schaue mich um: kein Socken liegt unterm Bett, kein Kondom liegt herum, nicht am Boden und auch nicht im Mistkübel in der Küche. Ich hoffe, dass eines der Kaffeehäferl, die in der Abwasch stehen, von Michael ist und nicht von mir. Ich gehe sogar hinauf in mein Zimmer, obwohl er dort doch gar nicht gewesen ist. Dort finde ich natürlich auch nichts, nur Annabelles Zwerge sind da, alle sieben. Tänzeln um meine Beine herum wie Staubflusen, wenn ein Luftzug sie trifft. „Was ist mit Annabelle? Hat sie ihre Prüfungen schon gemacht?“, frage ich, aber sie antworten nicht. Sie wirbeln selbstvergessen am Boden herum. Ich muss aufpassen, dass ich auf keinen von ihnen draufsteige, als ich das Zimmer wieder verlasse. Als ich schon fast aufgegeben habe, sehe ich das Sakko auf einem der Terrassensessel hängen. Da erinnere ich mich wieder. Wir sind draußen gesessen, haben Kaffee getrunken und geredet. Über Gott und die Welt. Mehr über die Welt (und ihre Politik) als über Gott. Weil der ist ja tot, da waren wir uns einig. ‚Tot, tot, so richtig tot‘, habe ich gedacht. Weil das mit der Auferstehung habe ich schon als Kind nicht geglaubt. Aufstehen: ja. So wie die Mutter aufgestanden ist, ganz schnell und so, als ob sie mich nicht gesehen hätte. Als ob sie etwas Verbotenes gemacht hätte und der Vater ist bei der Tür hinaus. Aber auferstehen? Nein, im Leben nicht. Was ja auch widersinnig wäre. Ich nehme das Sakko in die Hände, es fühlt sich anders an. Nicht so vertraut wie das von Georg. Es riecht auch anders. Fremd. Trotzdem bin ich erleichtert. Als Michael gefahren ist, habe ich hinterher gewinkt. Als ob er mein Mann wäre, der nach Wien pendelt zum Arbeiten. Als ob ich gleich ins Haus zurückgehen und dort die Wäsche aus der Maschine holen würde. Den Korb in den Händen ginge ich den Garten und würde sie, sorgfältig sortiert, auf die Wäschespinne hängen. Die Sonne schiene mir angenehm in den Rücken. „Er hat morgen Frühdienst!“, riefe ich der Nachbarin zu, die an der Gartentür stünde.
Das ist viel über die Welt! Und die Stadt und den etwas fremden Besuch.
AntwortenLöschenFeine Gedankenspielereien.
Lieben Gruss,
Brigitte
Danke, liebe Brigitte. (Meine Liebe zum Konjunktiv in allen möglichen Varianten kann ich wohl nicht verbergen! :)) )
LöschenLiebe Grüße, Andrea
interessante Phantastereien
AntwortenLöschen"Phantastereien" sollen das eigentlich keine sein. Aber natürlich liest jeder das, das er liest. :)
LöschenLiebe Grüße, Andrea