Als Annabelle
zurückkommt, trägt sie eine von Inas Ketten, eine besonders bunte und besonders
lange, sie hängt ihr fast bis zum Bauchnabel. Am Arm trägt sie ein Armband, das
mich an meines erinnert. Schweiß steht ihr auf der Stirn, sie musste zu Fuß die
Treppen steigen, der Lift ist wieder einmal kaputt und das bei der Hitze. Aber
sie erfängt sich schnell, schneller als ich. Seit gestern denke ich fast
pausenlos – geschlafen habe ich höchstens zwei Stunden –, dass Annabelle meine
Schwester ist. Halbschwester, Schwester. Kind meines Vaters. Ich versuche mich
zu erinnern. Habe ich die beiden (meinen Vater und Annabelle, Annabelle und
meinen Vater) irgendwann einmal gemeinsam gesehen? Aber immer wieder sehe ich
Ina, wie sie unter meinem Vater liegt, die Augen geschlossen. Ihr Mund an
seinem. Ich kann es nicht glauben. Ich will es nicht glauben. Wie kann man so etwas
machen. Wie lang ist das gelaufen? Wie kann man so etwas verheimlichen. ‚Wie
kann man so etwas nicht bemerken‘, denke ich und ich denke an mich und an meine
Mutter. Weiß es meine Mutter? Habe ich es gewusst? Ich hasse Ina, ich hasse
meinen Vater, ich hasse meine Mutter. Ich hasse mich. Ich suche nach Gemeinsamkeiten
mit Annabelle. Die Größe, die Haare. Die Vorliebe für Kakao. Der Abscheu vor
allem Breiigen. Sie weiß es nicht, sie hätte es auch nicht wissen können, sie ist
die Einzige ohne Schuld. „Hast du was? Du bist so komisch?“, fragt sie. Ich
schüttle den Kopf: „Ich hab‘ nur Kopfweh. Das Wetter!“ „Ist es, weil ich heute
schon wieder bei Ina war?“ „Um Himmels willen nein, Ina ist doch deine Mutter!“
„Sie macht jetzt so schöne Sachen, hast du schon gesehen?“ Sie zeigt mir die
Kette und das Armband. „Ja, echt wunderschön. Ich hab‘ auch so ein Armband, ein
ähnliches. Das Webshop läuft jetzt auch gut, was ich gesehen habe. Das wird
was!“ „Und du?“ Ja und ich. Ich werde mich wohl selbstständig machen. Machen
müssen. Mit fast fünfundfünfzig nimmt dich niemand mehr. Nicht fix. Das hat mir
nicht nur der Hermann gesagt, der schlau genug gewesen ist, sich rechtzeitig beteiligen
zu lassen. Dass er wirklich dazugehört, auch wenn er über die magic Fünfzig
geht. Annabelle kennt solche Geschichten. Das ist in Deutschland nicht besser,
dem Vater von Jan geht es auch so. Der ist zwar in einer anderen Branche
(irgendwas mit Halbleitern), aber den haben sie auch vor die Tür gesetzt. „Blöd
ist das, wenn man zwar hochgekommen ist, aber doch nicht ganz nach oben. Weil
da dazwischen lebt es sich am gefährlichsten“, sagt Annabelle, mein kluges Kind,
meine kluge Schwester. Sie dreht an den Perlen des Armbandes. „Wo hast du denn
deines?“, fragt sie mich. „Muss ich suchen. Bei dem ganzen Hin und Her der
letzten Zeit habe ich es irgendwo verlegt.“ Ich denke ‚Was für ein Hin&Her?‘,
da sagt Annabelle auch schon: „Was für ein Hin&Her?“ Es ist schön, eine Schwester
wie Annabelle zu haben. Ich umarme sie, damit mir das nicht herausrutscht. Ich
will zuerst mit Ina sprechen.
Schwester oder nicht Schwester, das ist hier die delikate Frage...
AntwortenLöschenSchönen Gruss,
Brigitte
Auflösung und Schluss kommt morgen. :)
LöschenLiebe Grüße, Andrea